Freiwillige Nationale Reduktionsstrategie ist nicht wissenschaftsbasiert
Die Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG), die Deutsche Gesellschaft für
Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte
(BVKJ) und der AOK-Bundesverband weisen die Aussage des Bundesministeriums für
Ernährung und Landwirtschaft in seiner Pressemitteilung vom 14. Februar 2019
zurück, nach der die auf Freiwilligkeit der Lebensmittelindustrie basierende
Nationale Reduktionsstrategie für Zucker, Salz und Fett in verarbeiteten
Lebensmitteln eine „wissenschaftsbasierte“ Strategie und „das Ergebnis eines
gemeinsamen Prozesses mit Beteiligung (…) der Wissenschaft“ sei.
„Mit der Formulierung `gemeinsamer Prozess´ erweckt das Ministerium den
Eindruck, es handele sich bei der Erstellung der Reduktionsstrategie um einen
partizipativen Prozess der Entscheidungsfindung. Das entspricht nicht den
Tatsachen. Wir sind angehört worden, aber unsere evidenzbasierten Empfehlungen
pro verpflichtende Maßnahmen sind nicht berücksichtigt worden. Das Ergebnis ist
weder ein Konsens, noch hatten wir ein Veto-Recht“, erläutert DAG-Präsidentin
Professorin Dr. med. Martina de Zwaan.
„Die Bemühungen von Julia Klöckner, Ministerin für Ernährung und
Landwirtschaft, für eine gesunde Ernährung insbesondere unserer Kinder und
Jugendlicher sind anzuerkennen“, betont Privatdozent Dr. med. Burkhard Rodeck,
Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin
(DGKJ). Allerdings habe das Treffen des Begleitgremiums der Nationalen
Reduktions- und Innovations-Strategie des Ministeriums gezeigt, „dass der Input
der Wissenschaft bezüglich gesunder Ernährung kaum bis gar nicht inhaltlich diskutiert
wird“.
Auch der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland (BVKJ)
fordert effektivere Maßnahmen gegen Übergewicht und Adipositas: „Wir
kritisieren neben der Freiwilligkeit der Strategie und der mangelnden
Definition von Obergrenzen kritischer Nährstoffe (Fett, Salz, Zucker) in
verpackten Lebensmitteln insbesondere die lange Zeitdauer für die Umsetzung der
Reduktionsziele. Das sind sieben verlorene Jahre für die derzeit
heranwachsenden Kinder – in diesem Zeitraum werden fortgesetzt Fakten für
Übergewicht und Adipositas durch überzuckerte Produkte geschaffen! Gerade für
Softgetränke benötigen wir eine effektivere Zuckerreduktion als vorgeschlagen –
oder eine Softdrinksteuer“, mahnt Dr. med. Sigrid Peter, Vizepräsidentin des
BVKJ e.V.
„In der Tat bleiben auch unsere Erwartungen an die Strategie des
Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft derzeit unerfüllt“,
bestätigt Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbands. „Die
Zielmarken sind so unambitioniert und unverbindlich, dass mittlerweile der
Eindruck einer Alibi-Veranstaltung entstehen kann“, so Litsch.
Beide Wissenschaftsgesellschaften, der Berufsverband der Kinder- und
Jugendärzte und auch der AOK-Bundesverband sind aber grundsätzlich bereit, sich
weiter konstruktiv im Begleitgremium zu beteiligen: „Wir haben uns auf einen
schwierigen und langwierigen Prozess eingelassen, obwohl wir wissen, dass es
wissenschaftsbasiert erfolgversprechendere Wege gibt, die Bevölkerung zu
unterstützen, die gesunde Wahl zur einfacheren Wahl zu machen und die
Lebensmittelindustrie zu motivieren, ihre Rezepturen gesundheitsförderlicher zu
gestalten. Diese Lösungen sind derzeit aber politisch nicht gewollt. Dennoch
wollen wir weiter gesprächsbereit bleiben“, signalisiert DAG-Präsidentin de Zwaan.
Die Kinder- und Jugendärzte PD Dr. Burkhard Rodeck und Prof. Dr. Berthold
Koletzko, die die Fachgesellschaft DGKJ in den Gesprächen zur
BMEL-Reduktionsstrategie vertreten, sehen die freiwillige Selbstverpflichtung
der Industrie schon jetzt dadurch konterkariert, dass einzelne
Verbandsvertreter keine Garantie für die Erfüllung dieser Selbstverpflichtung
durch ihre Mitglieder abgeben konnten. „Die Zielvereinbarungen sind zudem nicht
konsequent genug, die Strukturen zur Überprüfung der Einhaltung noch nicht
etabliert, eine klare Ankündigung von Sanktionen bei Nichterfüllung fehlt“,
fasst Rodeck den aktuellen Stand zusammen.
AOK-Bundesverband und Deutsche Adipositas-Gesellschaft fordern, dass im Vorfeld
der geplanten Sitzung im Herbst 2019 klare operationale Zielvorgaben für alle
Produktgruppen vorliegen müssen. Die Performance der Lebensmittelwirtschaft
sollte in einem definierten Konzept gemonitored werden – mit konkreter
Zeitplanung und der Vorab-Bekanntgabe von Veröffentlichungsterminen der
Reformulierungsergebnisse.
„Wir erwarten eindeutige Zielmarken, die sich an international erreichten
Reduktionserfolgen mit alternativen politischen Maßnahmen messen lassen müssen,
Berechenbarkeit und Transparenz in der Performance und regulatorische
Konsequenz bei Underperformance“, so DAG-Präsidentin de Zwaan.
DAG, DGKJ, BVKJ und AOK-Bundesverband erneuern darüber hinaus ihre Forderung
nach einem generellen Werbeverbot von an Kinder und Jugendliche gerichteter
Werbung für übergewichtsfördernde, verarbeitete Lebensmittel sowie nach einer
interpretativen, leicht verständlichen Nährwertkennzeichnung auf der
Verpackungsvorderseite.
Quelle: Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin vom 19.02.2019