Kitaausbau konterkariert Bundeskinderschutz

Regierung missachtet eigene Gesetze

500 Tage nach Inkrafttreten des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG) kollidiert selbiges mit den politischen Vorgaben zur Umsetzung des Rechtsanspruchs ab August 2013 auf einen Kitaplatz für unter Dreijährige. Das Ziel, Familien zu entlasten und allen Kindern unter drei Jahren einen Kitaplatz zu ermöglichen, ist die maßgebliche Handlungsmaxime der aktuellen Familienpolitik. Paradoxerweise ist es der Ausbau selbst, der vom politischen Aktionismus in sein Gegenteil verkehrt, nun zunehmend das Wohl der Kinder beeinträchtigt und sogar geltendes Recht missachtet.

Seit Monaten ist gewiss, dass es illusorisch ist, bis August 2013 die notwendige Anzahl an Kitaplätzen zu schaffen. Mit dem Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für unter Dreijährige lässt Deutschland ein technisch nicht ausgereiftes „Fahrzeug“ auf die Straße. Es kann zwar mit Müh und Not die Spur halten, wurde aber nicht für die Langstrecke konzipiert. Denn während die Politik eine Betreuungsquote von 35 % anstrebt, zeigt sich dort, wo ein Rechtsanspruch bereits besteht (Rheinland-Pfalz), dass 50-80 % von ihrem Recht Gebrauch machen – die Quantitätsziele sind zu niedrig angesetzt.

Insbesondere die Kommunen müssen aufgrund der Familienpolitik mit einer Klageflut von Eltern rechnen, die dringend einen Kitaplatz für ihre Kinder benötigen. Dementsprechend groß ist der Druck – auf die Bundesregierung, die Landesregierungen, auf Kommunen, auf Landesjugendämter und nicht zuletzt auf die Kitas und die ErzieherInnen. Anscheinend wird der aufgestaute Druck nun von oben nach unten weitergereicht. So hat insbesondere die Qualität darunter zu leiden, dass politische Vorgaben unter Druck an den Bedürfnissen von Kindern und ihren Eltern vorbei umgesetzt werden.

In den letzten Wochen erreichte die Deutsche Kinderhilfe eine zunehmende Anzahl an Unterstützungsanfragen von KitaleiterInnen und Eltern, die das Wohl ihrer bzw. der ihnen anvertrauten Kinder in Gefahr sehen. So auch die Leiterin der St. Marien Kindertageseinrichtung in Bonn, Frau Kleine-Onnebrink: „Ich bin seit 35 Jahren in der Kindertagesbetreuung tätig – es ging mir immer um das Wohl der Kinder – so etwas habe ich noch nie erlebt. Mir geht es dabei ganz schlecht. Ich habe das Gefühl, ich kann das Wohl der Kinder nicht mehr gewährleisten.“

Inwiefern die politische Vorgabe des Rechtsanspruchs unter der Maßgabe der Umsetzung bis August 2013 dazu führt, dass eine strukturell angelegte Kindeswohlbeeinträchtigung billigend in Kauf genommen wird, zeigt der Fall der Kita St. Marien in Bonn exemplarisch. Hier beharrte das Jugendamt unter Androhung einer Rückforderung der bereits ausgezahlten Fördermittel in Höhe von bis zu 300 000 € auf einer Belegung, die dem Kindeswohl zuwider läuft. Doch gerade die „…Konzeption der jeweiligen Kita hat eine zentrale Bedeutung. Aus ihr muss hervorgehen, mit welchen räumlichen, fachlichen, wirtschaftlichen und personellen Gegebenheiten die Einrichtung das Wohl der Kinder gewährleisten will (§ 45 Abs. 2 Satz 2 SGB)“, so Prof. Dr. Kathinka Beckmann, Professorin für Pädagogik der Frühen Kindheit und Mitglied im Beirat der Deutschen Kinderhilfe.

Um dem Schutzauftrag gemäß Bundeskinderschutzgesetz (§ 8a Abs. 2 SGB VIII) gerecht zu werden, sind die Träger von Pflegeeinrichtungen wie etwa Kindertagesstätten dazu verpflichtet, „Ereignisse oder Entwicklungen, die geeignet sind, das Wohl der Kinder und Jugendlichen zu beeinträchtigen, anzuzeigen“ (§ 47 Nr. 2 SGB VIII). Es ist nicht nur die Pflicht der ErzieherInnen, sondern auch ihr Recht, laut aufzuschreien und klar zu machen – so nicht!

Mit einer Dringlichkeitsanfrage können sich die KitaleiterInnen an den lokalen Jugendhilfeausschuss bzw. Landesjugendhilfeausschuss wenden. Diese müssen kritisch überprüfen, ob strukturelle Ereignisse das Kindeswohl beeinträchtigen können und dementsprechend eingreifen. Als politisches Gremium ist der Jugendhilfeausschuss nach § 71 SGB VIII mit allen Angelegenheiten der Jugendhilfe befasst. Er soll vor Ort an einer kinder- und familienfreundlichen Umwelt mitwirken.

Die Deutsche Kinderhilfe rät den LeiterInnen von Kitas und besorgten Eltern, sich gemeinsam auf bestehendes Recht zu berufen: „Es ist an der Zeit, dass Eltern und ErzieherInnen den Druck von unten nach oben zurück reichen“, so Marian Drawitz, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe. Die Deutsche Kinderhilfe möchte KitaleiterInnen und ErzieherInnen unterstützen ihren Schutzauftrag umzusetzen, um das Wohl der Kinder mindestens in dem Rahmen zu gewährleisten, wie vom Gesetzgeber gefordert. In einem Brief an die Familienministerin und die Landesministerien erinnert die Deutsche Kinderhilfe die Politik an ihr Versprechen aus ihrem 10-Punkte Programm, „Ausbau- und Betreuungshürden zu erkennen, zu beseitigen und die Betreuungsqualität zu stärken“.

„Wir möchten weitere KitaleiterInnen und Eltern ermutigen, uns ihren Fall zu schildern, damit wir gemeinsam an einer Lösung arbeiten können. Dabei setzen wir auf die Mobilisierung einer breiten Öffentlichkeit und den konstruktiven kritischen Dialog mit der Politik. Wir schauen hin und geben Kindern ihre Stimme“, so Rainer Becker, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe.

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Anlage: Exemplarische Schilderung der Leiterin einer Kindertagesstätte zur beschriebenen Problematik

Inwiefern die politische Vorgabe des Rechtsanspruchs unter der Maßgabe der Umsetzung bis August 2013 dazu führt, dass eine strukturell angelegte Kindeswohlbeeinträchtigung billigend in Kauf genommen wird, zeigt exemplarisch der Fall der Kita St. Marien in Bonn:

In Antizipation des Rechtsanspruchs und aufgrund mangelhafter Raumkapazitäten entschieden sich Kita und Träger im Jahr 2009 für eine Sanierung der gesamten Einrichtung und für einen neuen Anbau. Nach Vorgaben der Stadt Bonn und des Landesjugendamtes wurde der Umbau so geplant, dass nach dem Umbau mindestens vier höchstens sechs U3 Kinder pro Gruppe betreut werden können. Die Baugenehmigung wurde im Februar 2010 erteilt, die Gelder wurden jedoch nicht unmittelbar ausgezahlt. Dies führte zu einer immensen Verzögerung des Baustarts. Die ursprünglich für Sommer 2013 geplante Fertigstellung wird sich nun bis zum Frühjahr 2014 hinziehen. Für die Übergangszeit wurde in einem leerstehenden Kindergarten ein Ausweichquartier geschaffen und ein Container auf dem Außengelände errichtet. Das Landesjugendamt erteilte die Betriebserlaubnis für das Provisorium, obwohl „nichts den Vorgaben entsprach“, so Frau Kleine-Onnebrink, Leiterin der St. Marien Kita in Bonn. Im Januar 2013 fand der Umzug in das Provisorium statt. Stadt und Land machten jedoch klar, dass es für die Neuaufnahme von U3 Kindern im Provisorium keine Betriebserlaubnis geben werde. Diese Aussage wurde jedoch wieder zurückgenommen, da die eigentlichen Vorgaben für Raumprogramm und Außengelände vom Landesjugendamt aufgeweicht und drastisch gesenkt wurden – eine Betriebserlaubnis für die Betreuung für U3 Kinder im Provisorium wurde nun doch erteilt.

Völlig überraschend kam Ende Februar 2013 die Mitteilung des Jugendamtes der Stadt Bonn: Die Kita habe bis Ende 2013 sechs U3 Kinder pro Gruppe aufzunehmen! Frau Kleine-Onnebrink äußerte daraufhin ihre Bedenken, dass es aus pädagogischer Sicht undenkbar sei, solch eine Belegung vorzunehmen und eine Betriebserlaubnis zu bekommen. Doch das Jugendamt blieb unnachgiebig und verlangte, dass man sich an die Vorgaben zu halten habe – andernfalls sei mit einer Rückforderung der Fördermittel von bis zu 300.000 Euro zu rechnen. Die Konsequenz: Die vorgeschriebene Anzahl an U3 Kindern muss auch im Provisorium aufgenommen werden. Dies bedeutet eine Überbelegung von zwei U3 Kindern pro Gruppe – mit weitreichenden Folgen:

  • Aufgrund der Gruppenstruktur (14 ältere Kinder und sechs U3 Kinder) muss der gesamte Personalschlüssel umgestellt werden.
  • In Kombination mit dem KIBIZ, nach dem Kinderpflegerinnen nur noch in Gruppen mit Kindern von drei bis sechs eingesetzt werden dürfen (Sondergenehmigung nur noch bis Ende 2014, 50% einer Vollzeitstelle), fehlt es gerade an den Kräften, die sich am besten mit den Bedürfnissen der Kleinsten beschäftigten. Abstrus: Eine der Kinderpflegerinnen arbeitet dort seit 18 Jahren.
  • Bei solch einer Gruppengröße – zudem noch in einem Provisorium – geht es nur noch darum, die Grundbedürfnisse der Kinder zu stillen. Es wird Frau Kleine-Onnebrink unmöglich gemacht, den in § 22 SGB VII normierten Förderauftrag zu erfüllen.
  • Selbst einfachsten Notwendigkeiten wie dem Mittagsschlaf der Allerkleinsten kann nicht mehr adäquat begegnet werden – die Kinder schlafen im Gruppenraum.

Quelle: Deutsche Kinderhilfe e.V.